Konflikte beherzt angehen (Kapitel 2 von 4)

25. Mai 2023

Ich möchte nun auf die erste Ebene meiner Pyramide „Gelingende Kommunikation in Konflikten“ eingehen, nachdem ich im letzten Artikel dieses Modell kurz vorgestellt hatte. Du erfährst etwas darüber, worauf du achten kannst, bevor du ins Gespräch gehst – und welche Rolle deine Art zu atmen dabei spielt.

Bei der „Essenz“ geht es zunächst einmal um die Fähigkeit des Innehaltens. Denn das, was sich im Streit immer wieder offenbart, entspricht in der Regel leider nicht unseren besten Eigenschaften, Fähigkeiten und Gaben! Vielmehr handelt es sich meist um instinktive Reaktionen auf menschheitsgeschichtlich schon länger zurückliegende Bedrohungsszenarien:

Auch wenn ich mich lediglich in einer kleinen, unschönen Drängelei im überfüllten Regionalexpress wiederfinde, und nicht im Kampf mit einem ausgewachsenen Grizzlybären, der mir den Weg zu meiner Schlafhöhle versperrt: Wahrnehmung und Denken werden tunnelartig, während mein Adrenalinpegel in die Höhe schießt.
Gleichwohl es sich nur um die schnippische Bemerkung einer Seminarteilnehmerin handelt, und nicht um die gedämpften Stimmen sich anschleichender feindlicher Krieger: Mein System schaltet erstmal instinktiv auf Verteidigungsmodus inklusive steigendem Blutdruck und sinkender Fähigkeit zu Gelassenheit und Humor.

Waren diese automatischen Reaktionen damals in der Regel überlebenswichtig und angemessen, stellen sie unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen – Authentizität hin oder her – wohl eher ein Hindernis bei der Anbahnung von konstruktiver Verständigung dar. Der Konfliktforscher Friedrich Glasl beschreibt deshalb eskalierende Konflikten mit dem Bild einer Treppe, die nach unten führt – bestehend aus identifizierbaren, mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit aufeinanderfolgenden Stufen.

Wenn ich mir das Bild der abwärts führenden Treppe weiter vergegenwärtige, sehe ich ein Treppenhaus mit Absätzen, Zwischenetagen und Türen – Türen mit der Aufschrift „Exit“, die mir prinzipiell die Möglichkeit zum Ausstieg geben, wenn ich denn bereit und in der Lage bin, mir inmitten des rasanten Abwärtstaumels ein STOP zu verordnen: Innehalten, bewusst atmen, in mich hineinspüren.

Dem Atem kommt dabei eine besondere Bedeutung zu: Kontrolliertes, verlangsamtes Atmen in den Bauch hinein signalisiert dem Gehirn „Entwarnung“. Einer meiner Mentoren in der Gewaltfreien Kommunikation vertritt die Überzeugung, dass bewusstes Atmen einen direkten Bezug zum Moment unmittelbar nach der Geburt herstellt: Der erste Atemzug markiert den Eintritt in die Welt außerhalb des Mutterleibes und ist die Voraussetzung dafür, dass das Leben von nun an auf einer neuen Entwicklungsstufe stattfinden kann. Bewusstes Atmen in herausfordernden Situationen also im Sinne einer Rückbindung an das Lebendige in mir!

Eine von vielen Möglichkeiten, ins bewusste Atmen zu kommen, sei hier kurz vorgestellt:

Jeweils beim Ein- und Ausatmen in Gedanken (!) folgende Wort sprechen:
„Wenn ich einatme, weiß ich, dass ich einatme – wenn ich ausatme, weiß ich, dass ich ausatme.”
Dabei mit der Nase einatmen und mit dem Mund ausatmen – die Unterlippe leicht eingezogen, sodass der Luftstrom auf ihr zu spüren ist.

Die Konzentration auf das Mantra führt zunächst einmal weg vom rasen schnellen Gedankenkarussell. Der Fokus aufs Spüren des Luftstroms (beim Einatmen z.B. in den Nasenflügeln und beim Ausatmen auf der Unterlippe) hilft dabei, raus aus dem Kopf und rein in die sinnliche Wahrnehmung zu kommen.

Gelingt dies, dann ist es mit etwas Übung nur noch ein kleiner Schritt zu Introspektion und Selbstempathie:

Was empfinde ich gerade? (Anspannung? Herzklopfen? Nervosität? Lähmung? „Hals“ …? Aha!)
Was fühle ich? (Empörung? Angst? Enttäuschung? Traurigkeit …? Oje!)

Selbstempathie in dieser Form ist ein weiterer Schritt, mich mit dem zu verbinden, was in mir lebendig ist. Sie leitet hin zu Fragen wie:

Was tun wir hier gerade und will ich das eigentlich?
Was sollte auf keinen Fall passieren?
Was würde mir jetzt wirklich guttun?

Tauchen solche Fragen und womöglich auch noch Antworten dazu auf, haben wir es geradezu mit einem Glücksfall zu tun – für mich, aber auch für die anderen Beteiligten! Warum? Es macht einen riesigen Unterschied für die weitere Verständigung, ob ich mich einfach nur ärgere, oder ob ich in Kontakt mit meinen tatsächlichen Bedürfnissen bin. Mag die Lösung auch noch nicht greifbar sein – es wirkt sich in der Regel positiv auf die Situation aus, wenn mindestens eine der beteiligten Personen mit sich verbunden ist und weiß, was sie braucht. Das sorgt für Lösungsorientierung und für intelligentere Ideen für die nächsten Schritte.

Marshall Rosenberg mimte in seinen Seminaren übrigens mit Vorliebe einen geschenkebeladenen Santa Claus, der laut und überschwenglich „Ho, ho, ho!!!“ ausrief, sobald authentische Bedürfnisse in der Gruppe zur Sprache kamen.

Aus dialogphilosophischer Sicht geht es auf der Ebene der Essenz wohl auch darum, anzuerkennen, dass das, was gerade geschieht, prinzipiell immer auch mit Sinn verbunden ist: Gleichwohl dieser sich im Moment noch nicht zeigen will, gleichwohl es sich aktuell schmerzhaft und ungewiss anfühlt, kann ein Teil von mir durchaus ahnen, dass wir gerade eine wichtige Station durchleben, die uns weiterführt und lernen lässt auf unserem gemeinsamen Weg. Als Mensch verfüge ich prinzipiell über die innere Freiheit, diesem Teil in mir jederzeit Raum und Stimme zu geben, um nicht gleich der ersten Emotion oder der erstbesten Erzählung auf den Leim zu gehen.
Ob aus Konflikten Chancen für ein besseres Miteinander erwachsen, hängt also auch davon ab, ob ich in herausfordernden Situationen trotz allem irgendeine Art von „Draht“ zur Essenz des Seins habe.

Wohlgemerkt fand bis zu diesem Punkt noch keine Kommunikation i.S. eines verbalen Austausches statt. Aber vielleicht ist die Zeit ja jetzt reif, um – innerlich und äußerlich gut aufgestellt – ins Gespräch mit der anderen am Konflikt beteiligten Person zu gehen! Freu ich also auf die nächste Ausgabe der Dialogischen Praxis mit dem Schwerpunkt “Kommunikation”! Ich für meinen Teil freue mich übrigens sehr über jede Art von Rückmeldung zu den hier aufgeschriebenen Gedanken und beantworte sie auch liebend gern!