“Brücken bauen statt Gräben vertiefen” – Bürger:innendialog in Radebeul

31. Mrz 2022

Dialog, so scheint es, ist gerade nicht so angesagt. Kaum hatte Vodka Darth Vader Ende Februar beschlossen, Wohnblocks und Geburtskliniken zu bombardieren, landete Dialog in der Sonderpostenwühlkiste im Schatten begehrter Saisonartikel wie Luftabwehrraketen, Panzerfäusten und Stahlhelmen.

Dennoch erreichte mich – ebenfalls Ende Februar – eine Anfrage aus Radebeul zur Begleitung eines „Bürgerdialogs zur Corona-Politik“. Das beschauliche Radebeul, hübsch möbliert mit Gründerzeit-Villen, erstreckt sich kurz vor den Toren Dresdens zu Füßen imposanter Weinberge. Das Team der örtlichen Volkshochschule, wo ich im Jahr 2019 schon einmal ein Dialog-Seminar abhielt, war vom Bürgermeister mit der Durchführung dieser Veranstaltung betraut worden. Im dialogischen Ansatz sah es eine Chance, dieses ambitionierte Vorhaben leidlich zu meistern.

Vor einiger Zeit hatten wir beim Dialog unter freiem Himmel in Halle bereits dieses Thema: Es stellte sich heraus, dass das Gesprächsformat durchaus trägt, wenn es darum geht, Leute aus unterschiedlichen „Blasen“ miteinander in ehrlichen Austausch zu bringen. Natürlich ploppte dann und wann auch Polemik auf, sorgten bestimmte Sichtweisen immer mal wieder für Schnapp-Atmung. Aber im Großen und Ganzen gelang es den Teilnehmenden einander zuzuhören und immer wieder von sich persönlich zu sprechen, statt der Versuchung zu erliegen, dem Gegenüber „die Welt zu erklären“. So gab es beim persönlichen Schlusswort (Das ist die letzte Phase eines Kreisdialoges) sogar Äußerungen, die ein gewisses Verständnis gegenüber eigentlich konträren Sichtweisen durchblicken ließen.

In Erinnerung an diese gute Erfahrung sagte ich den Radebeuler Kolleg:innen zu – wohlwissend, dass es sich im Vergleich zum oben beschriebenen Halleschen Gesprächskreis um eine ganz andere Hausnummer handelt: Als Veranstaltungsort diente eine Turnhalle, und es war nicht klar, wie viele Menschen kommen würden. Klar war hingegen, dass viele von ihnen auch Teilnehmer:innen der Radebeuler Montagsspaziergänge sein würden. Aber als Dialogfan und selbst ernannter Forscher in Sachen guter Gesprächskultur verspürte ich einen starken Ruf, die Komfortzone mal wieder zu verlassen und gemeinsam mit anderen in dieser Richtung interessierten Menschen neue Erfahrungen zu sammeln und zu lernen.

Spoiler: Das Konzept ging auf und es ging eben auch nicht auf.

Es kamen ungefähr neunzig Menschen, welche auf Stühlen und Turnbänken Platz nahmen. In der Mitte der Halle war ein Kreis mit sechzehn Stühlen aufgebaut, in welchem der Dialog stattfinden sollte. Die Idee war, dafür zu sorgen, dass immer ein paar Plätze frei bleiben, sodass Leute jederzeit von außen nach innen bzw. von innen nach außen wechseln konnten, um prinzipiell allen Anwesenden die Teilnahme am Dialog zu ermöglichen. Zunächst aber, nach der Begrüßung durch eine Mitarbeiterin der Volkshochschule und den Oberbürgermeister, bat ich alle anwesenden Gäste darum, sich von ihren Plätzen zu erheben und auf eine Person zuzugehen, die sie nicht kennen. Anschließend durfte der zusammengefaltete Zettel geöffnet werden, den die Besucher:innen am Einlass erhielten, um zu den darin enthaltenen Fragen miteinander ins Gespräch zu kommen:

  • Woran erinnerst du dich zuerst, wenn du an den Beginn der Corona-Zeit vor zwei Jahren denkst?
  • Wer oder was hat dir dabei geholfen, bis jetzt durch diese Krise zu kommen?
  • Mit Blick auf die kommenden Wochen und Monate: Was ist dein größter Wunsch für das Miteinander hier in deiner Stadt?

Es folgten 20 Minuten lebhafter Unterredung, und ich beobachtete beim Umherspazieren zwischen den Pärchen viele Momente lebendiger Begegnung und Freude am Erzählen und Zuhören. Das erlöste mich vom ersten Gefühl der Beklommenheit angesichts der ungewohnten Dimensionen dieser Veranstaltung – ich leitete zuversichtlich die nächste Phase, den Kreisdialog, ein.

Dazu präsentierte ich die Dialog-Empfehlungen* und erläuterte die Spielregeln: Zum Reden bitte den Sprechgegenstand (d.h. das schnurlose Mikrophon) benutzen, Dialog-Empfehlungen beherzigen, bei Bedarf die in der Mitte befindliche Klangschale anschlagen (als Aufforderung zum Innehalten und zur Besinnung auf eben jene  Dialog-Empfehlungen).

Es begann mit einer Checkin-Runde, bei der das Mikro einmal eine Runde reihum ging – Frage: Was bewegt dich mit Blick auf die aktuelle Corona-Politik? Anschließend landete das Mikro auf einem Tischchen in der Mitte. Hat jemand etwas zu sagen, geht er oder sie in die Mitte, nimmt sich das Mikro, setzt sich wieder hin, spricht und legt es danach wieder zurück. Klingt erstmal umständlich, ist aber hoch wirksam, weil dadurch jener Rhythmus und jene Atempausen entstehen, welche den Teilnehmenden das Gefühl vermitteln, dass Raum da ist – Raum für Hinhören, für Nachdenklichkeit, fürs Kommenlassen neuer Gedanken, fürs Sich-berühren-lassen …

Von nun an reihten sich innerhalb des Kreises die Beiträge aneinander – einige davon geprägt von starker Emotionalität und individueller Beladenheit, wie es bei Corona-Themen nun mal oft der Fall ist. Manches, und sei es noch so irritierend, braucht wohl erst einmal Ausdruck und Gehör, bevor sich irgendwann im Kreis das Interesse füreinander entfalten kann. Aber ich möchte an dieser Stelle nicht auf die Inhalte eingehen, sondern im Sinne der Weiterentwicklung guter dialogischer Praxis über den Gesprächsverlauf und seine Herausforderungen reflektieren.

Zunächst freute ich mich darüber, dass die Teilnehmenden sich nahezu durchweg auf die dialogischen Spielregeln einließen, welche ja einen Unterschied zu den üblichen Bürger:innenversammlungen oder Talkrunden bewirken sollten. Dennoch kam es zu Phänomenen, die jener entschleunigten Gesprächskultur, welche ich mir erhoffte, einigermaßen entgegenwirkten. Am Ende schlich sich der Talkrunden-Style dann leider doch noch durch die Hintertür ein – Anne Will partout mitmischen. Hier im Rückblick  ein paar dieser „Phänomene“:

Klatschen: Vom ersten Beitrag an war ich damit konfrontiert, dass immer wieder geklatscht wurde, wenn die sprechende Person das Mikro zurücklegte. Klatschen unterläuft das für den Dialog charakteristische kurze Pausieren zwischen den Beiträgen und sorgt für eine Emotionalisierung des Austausches. Zumal das Klatschen, je nach Beitrag, wohl immer auch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lager (Spaziergängerin, Gegendemonstrant …) unterstreichen sollte. Natürlich wäre es völlig unangemessen gewesen, den Teilnehmenden das Klatschen zu untersagen. Mit Blick auf künftige Gesprächsrunden dieser Art bewegt mich dennoch die Frage, wie man im Vorfeld des Austausches eine gut begründete und nachvollziehbare Bitte dahingehend äußern könnte.
Fakten und Studienergebnisse: Entgegen der wiederholten Bitte, möglichst über persönliches Erleben und in der Ich-Form zu reden, war es einigen Teilnehmer:innen sehr wichtig, vermeintlich gesichertes Wissen und Studienergebnisse (z.B. zur Wirksamkeit von Impfungen und des Maskentragens) zu präsentieren. Dies führte immer wieder zu Diskussionen über Falsch und Richtig und zu mächtigem Rumoren in der Halle – und weg vom jeweils Eigenen. Die eindringliche Bitte eines Teilnehmers, auf das Referieren von Fakten zu verzichten, wurde in der Folge leider auch kaum beherzigt. Hier bräuchte es womöglich noch einmal mehr Klarheit in der Formulierung des Ziels eines Kreisdialoges: Weg vom Brillieren bzw. Appellieren mithilfe von mehr oder weniger gesicherten Fakten – hin zum Teilen persönlicher Gedanken und individueller Wahrnehmung. Wird dies vorab dargelegt, kann die Dialogbegleitung im Verlauf besser darauf Bezug nehmen und bei Bedarf darauf hinwirken, dass es nicht zu Pro- und Kontra-Diskussionen zwischen Hobby-Virolog:inen kommt.
Klangschale als Unterbrechung: Im Zuge aufkommender emotionaler Hitze nutzen aufgebrachte Teilnehmer:innen die Möglichkeit der Klangschale wiederholt als Versuch, eine gerade sprechende Person plump zu unterbrechen – wohl, weil diese etwas für sie sehr Unangenehmes aussprach. Auch hier ist künftig eine noch plausiblere Erklärung von Idee und Zweck dieses Dialogwerkzeuges nötig.

Der Radebeuler Bürger:innendialog fand unter dem Titel „Brücken bauen statt Gräben vertiefen“ statt. Der Oberbürgermeister wertschätzte in seinem Schlusswort den Austausch als wichtigen ersten Schritt und stellte eine Fortsetzung der Gespräche in Aussicht. Vom Bau einer Brücke konnte aus meiner Sicht jedoch noch keine Rede sein – eher von mehr oder weniger vehement vorgetragenen Standortbestimmungen der „Bautrupps“ dies- und jenseits des Flusses, inklusive einer grundehrlichen Vermessung des zu überspannenden Abstandes. Womöglich ist dies aber eine wichtige Station auf dem Weg zu konstruktiver Verständigung und möchte, wie fast alles, was zum gelingenden Miteinander beiträgt, geübt und verstetigt werden. Ich wünsche es den Radebeuler:innen von Herzen, ebenso wie allen anderen Corona-Disput-geplagten Communitys! Das kommunikative “Handwerkszeug” dafür existiert und hofft darauf, bald wieder vom Sonderposten-Status erlöst zu werden.

 

* Dialogempfehlungen (nach Johannes Schopp)

Folgende Empfehlungen helfen dabei, eine achtsame Gesprächsathmosphäre zu schaffen:

Jede/Jeder genießt den gleichen Respekt.
Ich mache mir bewusst, dass meine „Wirklichkeit“, nur ein Teil des Ganzen ist.
Ich genieße das Zuhören.
Ich brauche niemanden von meiner Sichtweise zu überzeugen.
Ich verzichte darauf, (m)eine Lösung über den Lösungsweg meines Gegenüber zu stellen.
Wenn ich von mir rede, benutze ich das Wort „Ich“ und spreche nicht von „man“
Bevor ich rede, nehme ich mir einen Atemzug Pause.
Ich rede von Herzen und fasse mich kurz.
Ich vertraue mich neuen Sichtweisen an.
Ich nehme Unterschiedlichkeit als Reichtum wahr.

*nach Johannes Schopp: „Eltern stärken. Die Dialogische Haltung in Seminar und Beratung“